Sirenengeschrei

Die Allergiesaison startete doch wieder.
Naja, wenigstens ein paar Tage später als üblich.

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Der Tag der Freude—der Tag an dem bei uns die Wirtn wieder öffneten— war… Also wenn es ein Ausdruck von Freude ist, schon um vier Uhr Nachmittags besoffen vor einem Lokal zu liegen oder Gruppen von Menschen sich mit einem Getränk in improvisierten Gastgärten unter einem Regenschirm drängen, dann sollte der Staat dies als Warnruf sehen. Allerdings hätte ich wissen können, wie die Nachbarschaft aussehen wird, als ich Kirby an dem Tag in dne Kindergarten brachte—das Bild war um acht Uhr morgens bereits dasselbe. Vor einem Kaffeehaus wirkte es, als würde man die Kommunion abhalten.
Als noch-nie-betrunken-Gewesener, kann ich den Reiz eines Rausches nicht nachvollziehen, aber wohl das Verlangen danach. Bilder wie die Genannten dienen mir zum Glück als Gehörschutz vor dem Sirenengesang des Alkohols—und die Erinnerung an den Anruf meiner Nichten, in dem Sie mich um Hilfe im Umgang mit meinem betrunkenen Bruder baten. Puh, wenn ich auch noch Spiegeltrinker wäre …

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Kirby fotografiert mometan gerne. Den Film den er ausbelichtet hatte, habe ich entwickeln lassen. Wenn wir noch ein wenig an seiner Komposition schrauben, wird das was. Fokus und Schärfe bzw. Schärfentiefe sind oft überbewertet.

Die Frau war über die vergangenen Tage sehr beschäftigt, wesewegen Kirby den Großteil seiner Zeit mit mir und seinen Großeltern verbrachte. Dabei viel uns allen auf, wie groß er inzwischen ist. Es ist beängstigend, wie blind man für die kleinen Veränderungen wird. Es steht zwar kein neuer Mensch vor mir, aber es brauchte Kirby, der ums Eck biegt, und ruft »Hier kommt der Kuschelsaurier!« und mich umarmt, damit ich feststelle wie groß er schon ist und wie „groß“ sein Sprach- und Verhaltensschatz inzwischen ist.
Aber auch die Kinder im Kindergarten sind wieder um so viel weiter gekommen. Was die mir alles erzählten und mich fragten—ich war nie so aufmerksam und neugierig. Und es war schön zu sehen, dass eines der Kinder seine „Anspannung“ momentan besser im Griff zu haben scheint.

Freddie blieb uns im Gedächtnis. Er fiel uns schon von weitem auf. Für einen so „frischen“ Tag, war er sehr luftig angezogen. Er stand mit seiner Schwester und Vater neben dem Ausgang des Supermarktes, und genoß sein Dreh-und-Trink.
Später begegneten wir uns auf dem Spielplatz; wo Kirby und Freddie sich darauf einigten, eine Piratenmannschaft zu sein. Die Herzen der versammelten Elternschaft stahlen sie leicht, denn Ihr auftreten war einzigartig: Kirby sah aus wie ein Chauffeur aus den 50ern und Freddie trug das Kleid seiner Schwester. Und während uns allein ein wenig kühl war, schien es, als würde er, in einer Art schamnistischen Ritual, mit seinen Drehungen und seiner Laufbewegung—es wirkte, als würde er gegen einen Widerstand anlaufen, der nur Ihm galt—den Sommer herbeibeschwören.
Als wir später noch Freddies Schwester und Vater kennenlernten, passierte es wieder: die Kinder erzählten mir unaufgefordert von Ihren Geburtstagen, welches Ihre Lieblingskleidung/-torte/-getränk/-superheld/-tante/-onkel sind, was Sie heute noch planen, wie Ihre Zimmer aussehen und detailierte Beschreibungen Ihrer Betten—mit Aufbauten, die man per entsprechend bedrucktem Stoff in ein Schloss, Jungel, Wüste und ein Haus umbaut. Ich musste mich nur hinsetzen und »Hallo.« sagen.
Es war schön, die Kinder miteinander spielen zu sehen. Und ich lernte einen Spruch den ich noch nicht kannte: »Nicht Eltern haben Kinder; Kinder haben Eltern.«

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Im professionellen Alltag blieb die Lage in diesem unheimlischen Zustand der „entspannten Anspannung“. Immer mehr Kollegen erhielten inzwischen ihre Erstimpfung gegen Covid19, und der Rest soll bis Ende Juni einen Termin bekommen. Die neuen Vorgesetzten begangen damit, mit deren neuen Besen durch das Unternehmen zu kehren—und während mein Chef dies feiert, sehe ich in deren Vorgehen ein paar—und ich bin mir bewusst wie paranoid sich das liest—sehr gut versteckte Evaluierungen zur Optimierung der Ausgabenseite. Mir kam es vor, als würde man uns den neolieberalen Schmäh erzählen: »Man möchte die Arbeitsvorgänge optimieren.« Für das Personal der Leihfirma, bei der man drei Menschen zum Preis von einem Festangesteltem bekommt. Wie schon oft erwähnt wurde, ich gehe immer vom schlimmsten aus—vielleicht wird es nicht so schlimm, und man möchte uns tatsächlich helfen.
Zwischen dem tippen des Entwurfs und der Veröffentlichung des Eintrags wurde ich gebeten mir Gedanken darüber zu macheb, welche Handgriffe man denn an Fremdpersonal auslagern könnte …

Der professionelle Alltag stellte sich die Frage, wie gescheit es wohl ist, dass wir „Firmeninterna“ über einen Messagingdienst auf unseren privat genutzten Geräten besprechen. Die—für mich unbefriedigende—Antwort darauf war »Na was besprechen wir denn so sensitives?«; was ich Zähneknirschend hinnahm. Die Benutzung des Dienstes wird mir in den kommenden Tagen ohnehin unmöglich werden, da ich dessen Nutzungsbedinungen nicht zustimmte.

Ein paar Stunden später wurde die Antwort wieder infrage gestellt; durch eine Liste mit Namen zu einem Thema weitergeleitet wurde, was zu einem Streigespräch darüber führte, wieso X, aber nicht Y in der Liste stand.
Ich konnte mich nicht zurückhalten, und erwähnte, dass wir genau jetzt den Fall haben, in dem rechtliche Schritte eingeleitet werden könnten, weil man gegen das Persönlichkeitsrecht verstieß. Man hätte jeden Betroffenen einzeln in Kenntnis setzen müssen, anstatt »Preisinfo für die Kondome! Extra Small!« durch das Geschäft zu rufen.

:: journal ::
Dreh und Trink | drehundtrink.com
• Wirtn = Merzahl von „Wirt“, lokale Kurzform von „Wirtshaus/Gaststätte“

2 Antworten auf “Sirenengeschrei”

  1. Den Freddie seh ich vor mir wie so einen tanzenden Derwisch.
    „Vor einem Kaffeehaus wirkte es, als würde man die Kommunion abhalten.“ Auch sehr lustig!
    Dass Dein Sohn gerne fotografiert, stelle ich mir sehr niedlich vor. Ich erinnere mich an ein Foto von meinem Neffen als er noch klein war, er fotografierte ein geschlossenes Garagentor, in das kurz vorher ein Traktor eingeparkt hatte. Nur hat er halt zu spät abgedrückt. Hinterher brauchte man halt Phantasie um zu wissen, dass er einen Traktor fotografiert hatte.
    Schöner Eintrag mal wieder!

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    1. Ein tanzender Derwisch ist ein sehr passendes Bild von Ihm.
      So ähnlich wie Dein Neffe habe ich das als Kind auch gemacht und mache ich immer noch. Aber meist als Erinnerung an mich selbst, und weil ich zu feige bin „im Moment“ abzudrücken.
      Vielen Dank!

      Gefällt 1 Person

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