Vorsingen bei Cannibal Corpse

Kirby wurde operiert. Vom Erfolg bin ich—hoffentlich noch—nicht überzeugt. Beginnen wir am Anfang:
Vor ca. 13,81 Milliarden Jahren—± 0,04 Milliarden Jahren—enstand das Universum, seit zwei Millionen Jahren treiben wir unser unwesen, und im Frühjahr 2022 wurde beschlossen, dass es Zeit ist, der Evolution unter die Arme zu greifen, und Kirbys Polypen zu entfernen und eventuell auch gleich Paukenröhrchen zu setzen.
Natürlich begann Kirby, drei Tage vor der Operation zu schnupfen. Aber er wirkte dadurch nicht eingeschränkt, weswegen wir annahmen, dass es sich um die allseits bekannte einen Tag lange dauernde Verlegung handeln wird. Am Folgetag bei der Voruntersuchung durch die Kinderärztin sagte diese, dass sein Ohr ein wenig gerötet sei. Da musste ich mich sehr zusammenreißen, als sie mich fragte »Was soll ich denn da jetzt schreiben?« Da lag mir schon ein »Woher soll ich das wissen? Da steht ihr Name auf der gerahmten Zulassung.« im Magen. Natürlich waren meine Worte zu dem Zeitpunkt noch roher, aber ich schaffte es—durch die Zähne—zu sagen »Ich kann es nur als Laie beurteilen, aber er spricht von keiner Beeinträchtigung, könnte es sich bis Übermorgen auswachsen?« Nach einer Denkpause wurde mir geraten, Nureflex zu reichen, und der HNO und der Anästhesist im Spital sollen sagen was Sache ist. Klassisch, der österreichische Weg.

Nureflex ist praktisch dickflüssiges Ibuprofen, und wir scheinen die einzigen Eltern zu sein, die es nicht mögen. Wir reichten es Kirby auf ärtztlichen Rat hin um eine Mittelohrentzündung erträglicher zu machen, und es war als hätten wir ihm Koks gegeben. Und nachdem die Wirkung nachgelassen hatte, wirkte er noch fertiger als davor—wahrscheinlich durch meine Verzerrte Wahrnehmung; das Kind schien vor einer Stunde noch vor Bewegungsdrang zu zittern, wenn es versuchte zu verharren.
Inzwischen ist Kirby kein Freund von Medikamenten. Nach viel Geschrei schafften wir es, den Sirup löffelweiße mit ein paar Schluck Kokosmilch dazwischen einzunehmen. Abends wollte er dann auch die Löffelmethode nicht mehr anwenden, da hielt ihn die Frau fest, und presste den Sirup mit der beigelgten Spritze in Kirbys Mund.
Ich suchte in einer Pause das Internet danach ab, ob man Nureflex auch verdünnt mit Saft geben könne, worauf ich keine eindeutige Antwort, aber den Hinweis auf die Spritze bekam; mit der kann man das Medikament ja an den Geschmacksknospen vorbei verabreichen…

Bei der Voruntersuchung im Spital schlug man die Hände über dem Kopf zusammen. »Wie kann man denn nur Nureflex verschreiben, das wirkt wie Aspirin!« Kirbys Zustand ließ den Eingriff zu, nur sollten wir ihm eben kein Nureflex mehr geben. Man erklärte uns den Ablauf, und in der Wartezeit stellten wir fest, dass er eines der wenigen Kinder ist, die nicht die ganze Zeit vor einem Bildschirm hocken müssen. Die Frau wurde nach unserer Erziehungsmethode gefragt. Als Begleitperson wählte Kirby die Frau.

Am Tag der Operation wählte ich einen Park in der Nähe des Spitals als Ort aus, an dem ich auf die Beiden warten würde. Durch einen Notfall, verzögerte sich der ganze Prozess um ein paar Stunden. Aber Kirby ertrug es, es war ihm nicht ganz recht, nicht frühstücken zu können. Als ich in Kirbys Alter operiert wurde, wurden meine Eltern kurz vor dem Operationssaal stehen gelassen, und ich—weil mich darüber niemand informierte—lautstark protestierend weitergeschoben. Heute ist das zum Glück nicht mehr so—jedenfalls in dem Spital. Kirby bekam zur Vorbereitung ein Beruhigungsmittel, welches ihn über den Zeitraum von einer Stunde einschlafen ließ. In der Zeit erzählte er allerlei Kurioses, z.B. das die Falten seiner Kleidung wie das Gesicht eines anderen Kindes aussahen, oder sein Blut zu laut singe.
Während Kirby operiert wurde, stellte die Frau fest, dass die drei Kinder vor ihm alle bis zu deren erwachen aus der Narkose inthubiert blieben. Da wurde uns anders. Was wir nicht bedachten ist, dass die Kinder während der Operation künstlich beatmet werden.
Man brachte ihn ohne Tubus wieder zurück ins Krankenzimmer, was den Prozess des aufwachsens nicht weniger verstörend machte. In der Vorbereitung erklärte man uns, dass sich der Körper in der Kindheit gegen die aufgezwungene Ruhe wehrt, und dieser Prozess ungewohnte Reaktion mit sich bringe. »Ungewohnt« war ein Hilfsausdruck; die Frau nahm Kirby beim schreien auf, und ich erkannte mein Kind nicht. Da kam der Ton von ganz unten, er klang wie ein Erwachsener, als würde er bei Cannibal Corpse vorsingen. Die Frau wollte Kirby im Schlaf die Windel wechseln, wurde dabei allerdings gleich vom Pfleger darüber aufgeklärt, dass der Geruch nichts mit seiner Windel zu tun hätte.
Nach einer Stunde schreien und schlagen wurde er schlagartig wach, und bat darum endlich etwas essen zu dürfen. Während des essens erfuhr die Frau auch den Ursprung des Geruchs: das Sekret im Gehörgang war inzwischen schon so alt, dass es Kot-ähnlich roch. Seine Polypen waren auf die Größe von Daumen angeschwollen.
Kirby freute sich über die Meerjungfrau Barbie die er noch im Spital bekam, und über den Parasaurolophus, der zu Hause wartete. Sein Hals schmerzte vom Tubus und das plötzlich frei abfliesende Sekret irritierte ihn nachts. Es weckt ihn immer noch auf, aber wir veränderten die Position seiner Trinkflasche, und nach ein paar Schluck Wasser schlief er bisher immer ein.
Undheimlich ist, dass er nun beinah völlig geräuschlos schläft. Wir konnten an seinem Schnarchen die Qualität seines Schlafes bestimmen bzw. fesstellen ob er schlief. Es erinnert uns an die Zeit, als er sich als Baby immer auf den Bauch drehte bzw. nur ruhig schlief wenn er auf dem Bauch lag. Statistisch starben mehr Bauchschläfer am plötzlichen Kindstot, und wir überlegten lange, ein Atemlontrollgerät anzuschaffen. »Damals« waren das Platten, welche die Atmung überwachten, und beim Ausbleiben dieser Alarm schlagen—laut genug um ganze Ortschaften zu wecken. Leider war keines der Systeme mit unserem Babyfon kombinierbar, weswegen wir regelmäßig aufstanden, um seinen Atem zu prüfen—wenn er uns nicht ohnehin wach hielt. Momentan werden wir durch die Stille wach, und schleichen uns in sein Zimmer um nachzusehen wie er schläft.
Seit der Operation braucht er auch weniger Schlaf; was wir mit früher zu Bett gehen kompensieren.

In den letzten Tagen hatte ich oft das Gefühl, Kirby hätte wieder an Hörvermögen abgenommen. Andererseits, ist er auch in einer Phase, in der er seine Grenzen wieder einmal auslotet, und Unangenehmes überhört. In meinem Reptiliengehirn macht sich die Angst breit, dass wir das Stück noch einmal aufführen werden.

Am Tag der Operation holte ich mir während des wartens einen Sonnenbrand ab. In der Zeit ab sieben Uhr früh, schob sich die Sonne langsam über den künstlichen Horizont der Gebäude ringsum, und mir wurde erst bewusst wie es um meine Haut stand, als sie bereits rot leuchtete. Aber ich laß in der Zeit ein ganzes Buch, und jetzt weiß ich: nach 150 Seiten muss ich in den Schatten.

4 Antworten auf “Vorsingen bei Cannibal Corpse”

  1. Puh, da habt ihr ja einiges mitgemacht, sowohl der Patient selbst als auch ihr als Eltern. Liest sich oft sehr beängstigend. Hoffentlich zeigt sich der gewünschte Effekt doch noch im deutlichen Ausmaß!

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  2. Ich lese das wieder mal eben erst und wünsche im Nachhinein gute Erholung, Kirby und den Eltern. Du beschreibst das Absurde und Befremdliche an so einer OP sehr packend.

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    1. Vielen Dank! Die Schlafumstellung macht uns noch zu schaffen. Danke, ich fürchtete, dass ich den Druck nicht in Worte übersetzen konnte!

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