Die Allergiesaison begann für mich, mit einer ungewohnten Heftigkeit. Dazu muss ich sagen: Ich bilde mir ein, jedes Jahr aufs neue zu Verdrängen, wie schlimm es im
vergangenen war, und erkläre jährlich die Aktuelle zur schlimmsten Allergiesaison meines Lebens.
In diesem Jahr reißt mich Desloratadin auch nicht raus, weswegen ich in der Apotheke um mehr Chemie bat. Man händigte mir ein Nasenspray aus, welches die Klinge der Rhinitis abstumpfen ließ, und den Druck über ließ. Damit konnte ich leben — von der Müdigkeit sprach niemand. Hätte dem Apotheker wohl von den Tabletten erzählen sollen, das Spray alleine reicht um durch die Zeiten zu kommen, in denen man die Fenster nicht schließen kann — draußen zum Beispiel.
Ich vergaß, wie heiß Luft sein kann. Hochdruckwetter bekommt eine ganz andere Bedeutung. Wenn man den ersten Schritt nach draußen macht, fühlt es sich tatsächlich an, als würde man berührt.
Der Termin beim klinischen Psychologen für die Autismus Diagnostik. Es war nicht so schlimm wie angenommen — am schlimmsten war, dass ich mit voller Blase dort ankam, und der dies Psychologe auf die Minute genau tat, weswegen ich vor der Praxis den Lulu-Tanz aufführte —, lediglich die Dauer der benötigten Aufmerksamkeitsspanne ermüdete mich. Und die Fragen, zum Verständnis von Bildergeschichten. Die Texte waren lang und genau formuliert, und ich musste da nicht nur ein Mal nachlesen.
Für zu Hause gab es dann auch noch ein paar Fragebögen, auch für die Menschen in meinem Leben. Die Frau sah diese mit dem feinsten Kamm durch, und fügte Kommentare hinzu. Der Psychologe lässt mich dafür wohl in Ketten legen und einweisen.
Als meine Eltern den Fragebogen ausfüllten … war mir das peinlich. Ich bin nicht das knusprigste Brot im Korb, aber ich verstand und akzeptierte den Sinn der Fragen. Gut, nach der fünften Variation von «Hören sie die Stimmen höherer Wesen, welche ihnen Anweißungen geben?» war ich ebenfalls stinkig, aber ich verstand den Sinn dahinter. Es kann ja keinen so großen Unterschied zwischen meinen Eltern und mir geben. Oder?
Jedenfalls denke ich, dass es am Ende nur heißen wird: ihre Depression ist lediglich so tief wie der Mariannengraben, nehmen sie zwei von diesen und rufen sie mich morgen an.
Es ist auch dumm, dass ich immer in Rollen schlüpfe — auch hier im Blog. Aber so «überlebte» ich bisher ausserhalb meiner Komfortzone. Es wunderte den Psychologen, dass ich aktiv Blickkontakt bzw. Blickrichtung zu ihm hielte. Und es verstärkte das Verlangen danach, mir das Fleisch von den Knochen zu schälen, antwortete ich, aber so wurde ich eben sozialisiert: man schaut seinem Gegenüber ins Gesicht.
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Das letzte Studienwochenende der Frau war aufregender als ich es gebraucht habe. Die Zeit bin ich alleine mit Kirby — die Frau studiert in einem anderen Land —, welche für mich anstrengend ist, und diesmal schon sehr fordernd begann. Kirby bekam ein Abo für eine fiktive Brieffreundschaft geschenkt. Da gibts jedes Monat einen Brief aus dem Land, in dem sich die «Brieffreunde» aufhielten, inklusive kleiner Präsente — dieses Mal zu Japan passend ein paar Essstäbchen und Origamipapier. Das essen mit Stäbchen interessierte Kirby nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen wenig, aber als Schläger für seine Bongos gefielen sie ihm.
Dann verlor er das Gleichgewicht, stürzte und verletzte sich dabei mit den Stäbchen im Gesicht. Die Schwere der Verletzung ließ sich im ersten Moment nicht einschätzen, dazu hatte er zu viel Blut im Gesicht. Und der Blutfluss machte keine Anstalten alsbald zu versiegen. Ich trug ihn in die Badewanne und versuchte mit einem Taschentuch klarere Verhältnisse zu schaffen. Das war nicht möglich. Es schien als hätte er eine Lücke zwischen Nasensteg und vorderer Nase geschaffen, aber die Menge ab Blut und durch die Atmung entstehenden Blutblasen ließen mich zu keinem Eindeutigen Schluss kommen. Ich rief die Rettung, landete aber bei der Feuerwehr — weil ich in dem Moment meinte, die Folge der Notrufnummern wäre alphabetisch umgekehrt… Ich vergaß die Tränen und meine Hilflosigkeit zu erwähnen, was mich schroff werden ließ. Kirby wollte — vollkommen berechtigt — wissen ob er ins Spital komme, eine Spritze bekomme usw., und der Mann in der Telefonzentrale hatte Schwierigkeiten damit die Adresse zu verstehen. «Kann bitte nur einer mit mir reden?» kam mir daraufhin aus. In der entstandenen Stille teilte ich schnell meine Adresse mit. Der zweite Sachbearbeiter schickte, nach kurzer Erklärung der weiteren Vorgänge, einen Wagen los. Unter anderem riet er mir dazu, Kirby in ein Handtuch bluten zu lassen. Dem kam ich nach, und siehe da: eine Minute später war die Blutung gestoppt.
Kirby entschuldigte sich bei mir. Ich sagte ihm, die Schuld läge bei mir; weil ich ein unfähiger Mensch bin; weil ich ein schlechter Vater bin — die Stäbchen hätten sofort nach dem Trommeln abgenommen werden müssen.
Dazwischen rief ich meine Eltern an, die zehn Minuten vor dem Unfall von uns aus losgefahren waren. Die drehten um.
Die Sanitäter kamen zu demselben Schluss wie ich nachdem wir die Nase gesäubert hatten: Nasenloch «blöd» verletzt. Kirby wurde ein wenig kalt, damit war es aber vorbei nachdem er etwas gegessen hatte.
Meine Eltern unterhielten Kirby während die Spuren verwischte. Dabei viel mir erst auf, wie viel Blut ich abbekommen hatte. Ich sorge mich nach wie vor darum, dass ich Besuch vom Familienamt deswegen bekomme.
Der Frau erzählten wir später am Telefon davon.
Zu unser beiden Überraschung schlief Kirby ruhig und lange. In der zweiten Nacht weinte er Mama nach, und sagte mir auch, dass ich ihm als Trost nicht ausreiche. Dafür wachte er in der dritten plötzlich auf, klärte mich über seine Anwesenheit auf, und schlief neben mir ein.
Am nächsten Tag war er wieder fit genug für eine Wasserschlacht mit seinen Cousinen.
Bei der Gelegenheit, lernte ich mit neun Monaten Verspätung meinen zweiten Neffen, Martin, kennen. Ein komotter Kerl, allerdings war er zu dem Zeitpunkt ausgeschlafen.
Wir hielten den Besuch kurz. Mein Bruder war auch da, und erstens war der Treffpunkt räumlich für mein Empfinden zu klein für die Anzahl der Anwesenden, und ich wollte mir nicht mehr die üblichen Erklärungen zu diversen Boulevardthemen anhören. Dann ist die Ariel im Film schwarz, deine drei Kinder sind es ja auch.
Die Rückreise der Frau verzögerte sich ein wenig, war aber pünktlich genug, um zusammen mit der Schwiegercousine und dem Schwager bei uns anzukommen. Die besuchten ein Konzert und parkten ihren Nachwuchs für die Zeit bei uns. Die Kinder — alter Schwager jun. und das Mädel — waren beide gut aufgelegt. Kirby war ohnehin erledigt und wollte nurmehr seine Ruhe und die Beiden anderen relativ pflegeleicht — ein Spaziergang brachte sie zum schlafen.
Am nächsten Tag bekam die Frau ein Dankeschön. Sicher, sie verbrachte den Großteil der Zeit mit den jüngeren Kindern, und verdient ein Dankeschön, ich war aber auch da — ich musste meine geistigen Arschbacken fest zusammenzwicken um zu funktionieren aber ich unterhielt die Drei. Auch wenn ich erst wieder in den Rhythmus jüngerer Kinder finden musste. Wie schnell man das verlernt…
Was ich lobend erwähnen muss, ist wie Kirby sich von mir die Haare waschen ließ. Er hasst es, und führt jedes Mal ein Schreikonzert auf. Ich ließ ihn sich selbst shampoonieren, beim abspülen fixierte er plötzlich die Zimmerdecke, und ich nutzte meine Chance und spülte die Haare aus.
Abends fragte er mich, was Höhlenmenschen machten. Ich sagte ihm, dass deren Leben dem unseren ähnelte: man passte auf Kinder auf, man jagte, man kochte, man schaffte Kultur, man baute Dinge. Dabei erkannte er, dass man Steine schärfen kann, und als Werkzeug benutzen kann. Dem Gespräch setzten wir noch das Thema «Domestizierung von Tieren» auf. Dabei erkannte er von selbst, wie das Wechselspiel von Teilen von Ressourcen mit Eingliederung in eine Gesellschaft einhergeht.
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Natürlich vergaß mein Chef darauf, mir an dem Studienwochenende der Frau frei zu geben, allerdings schon vor drei Wochen. In der Zwischenzeit hatte ich angenommen, dass man einen Ersatzmann eingespannt hätte, Freitag Vormittag erfuhr ich, dass dies nicht geschehen war. Diese Gespräche sind nervig. Immer wird man an die Rechte des Arbeitgebers erinnert, ich habe allerdings auch welche.
Ein neuer Kollege traute sich nicht sich krank zu melden. Der kam mit geschwollenem Hals an den Arbeitsplatz, weil der Chef am Vortrag seinen «Die Jugend hält nichts mehr aus.» Vortrag hielt, als der Kollege erwähnte, dass er sich kränklich fühle. Ich schickte den kranken Kollegen nach Hause. Warte noch auf Feedback meines Chefs.
In letzter Zeit beschwerten sich viele Mitarbeiter wieder darüber, dass sie keine zwölf-oder-mehr Stunden mehr arbeiten dürfen… Wer hat sie so verletzt?