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In den letzten Wochen kam ich täglich ein einem Erotik Shop vorbei. Der sperrte in den frühen 90ern auf, und war damals Bezirksgespräch; ein großes Ladenlokal, rote, große Beschilderung und eine Laufschrift, direkt neben einer Straßenbahnlinie, welche nicht nur an einem Amtsgebäude, sondern auch an einem großen Bahnhof vorbeikommt. Damals war ich weniger um die Verrohung meiner Seele besorgt, wenn ich an dem Geschäft vorbeikam, sondern was die Werbung mit »Barrierefrei« meinte. Muss man sich woanders erst einmal durch einen Hindernissparkour arbeiten, bevor man um viel Geld an seine Wichsvorlagen kommt? Hoffentlich stehen die Kalt- und Heißgetränke nicht am Beginn des Hindernisslaufs… Heute weiß ich, öha, die waren sehr progressiv für ihre Zeit. Von dem ist heute nicht mehr viel über. Da stehen noch ein paar Mannequins in den Auslagen, die aussehen, als würden sie einen Rave besuchen wollen, der … der Vorstellung eines Raves von christlichen Mittelschichtlern entspricht. Was mich allerdings seit ein paar Tagen beschäftigt ist die Werbebotschaft des Geschäfts, welche in den frühen 2000ern auf »Erotic Lifestyle« geändert wurde. Denkt der Durschnittsösterreicher, dass Erotik bedeutet, peinlich berührt, in billiger pseudo-Fetischbekleidung im finsteren Schlafzimmer zu stehen? Muss man für Erotik immer seine Nein-Neins betonen/zeigen/offensichtlich verhüllen? Erotik und Sexualiät ist doch etwas, dass die ganze Zeit stattfindet. Auch wenn wir nicht bewusst daran denken, erzeugt unser Körper Pheromone, Hormone usw.. Es ist kein Wunder, dass sich viele Heterosexuelle momentan bedroht durch »Andersliebende« fühlen, wenn sie vielleicht ihre eigene Sexualität nicht offen ausleben dürfen bzw. sich nicht trauen es zu tun.
Ich lernte aber, dass der durchschnittliche Österreicher annimmt, Schweinderl und Muh-Kuhli werden eines Tages im Feng-Shui Stall zu den sanften Klängen der Windspiele munter, fliegen auf einer Wolke in ein großes Gebäude, wo sie noch einmal ein Festmahl mit ihren Freunden — untermalt von der Best Of des Klangschalen Fritz — genießen, bevor sie gaaaanz müde werden, und friedlich einschlafen. Und während sie da rasten, zefallen sie auf Kotlets, die dann um 10cent pro Kilo auf unseren Tellern landen, frei von Anti- und Probiotika. Und pro Tier bekommt der Bauer eine Scheibtruhe voller Gold.

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Ich nehme vieles zurück, Kirby hört tatsächlich besser; und manchmal ist das erschreckend für ihn. Während eines Besuches in einem Wildtierpark erlebten wir je einen Streit in den Haus- und Wildschweingehegen, dessen Lautstärke ihn erschütterte. »Schweine können so laut sein?« fragte er uns.
In den letzten Tagen spielen wir beinahe täglich mit Figuren, und das Kleine Welt-Spiel zeigt, wie aufmerksam er ist. Wir richteten Käfige ein; betrieben Geo-Engineering; kauften in Kirby’s Geschäft ein; verarzteten diverse Wehwehs; die Pingunine fuhren Eis essen. Bei kassieren gefiel mir, dass er nicht einfach ein paar gerade Summen als Preis nannte, sondern noch ein paar Kommazahlen hinzufügte — 38,71 blieb bei mir hängen. Werden andere Kinder sicher auch sagen, und ich lobe meines über den Klee — das sagt man so, oder?

Sein Schlafverhalten ist momentan nicht deut- bzw. beeinflußbar. Es findet momentan wieder Entwicklung statt, und da schlief er immer unruhig. Man bemerkt nach ein paar Tagen dann, wie seine Feinmotorik sich verbessert, oder er Interesse an neuem zeigt.
Bei einem Abstecher zu einem Buchhändler marschierte er geradewegs zu den Comics, und schnappte sich einen Agentencomic auf dessen Cover jemand überfahren wird. Die Frau und ich überstürzten uns bei dem Versuch, ihm vor dem aufschlagen des Comics abzuhalten. Er entschied sich dann dafür, durch Simon & Louise zu schauen; was für sein Alter auch nicht geeignet ist, aber besser ist, als ein Spionageschinken. Simon & Louise habe ich in der englischen Fassung im Regal, zu Hause fand er es im Regal. Und dabei fiel ihm auch ein anderer Commic auf: Lehmriese lebt!. Das lasen wir dann bei 15 Mal. Jetzt weiß er ungefähr, was ein Golem ist.

Im Kindergarten gab es Probleme mit einem seiner Freunde. Der war wohl frustriert, weil seine Eltern gerade mit seinem Geschwisterkind beschäftigt sind, und sie ihn früher auch den Großteil ihrer Zeit vor dem Fernseher parkten. Das ließt sich wahrscheinlich wie ein Vorwurf, aber ich kann verstehen, dass die Eltern überfordert sind bzw. ihnen beruflich so viel abverlangt wird, dass sie in der Freizeit auch erst einmal eine Weile sitzen müssen. Das ganze klärte sich recht schnell auf, brauchte bis dahin aber ein paar verheimlichte Schläge und Zwicken und Stoßen. Und hier war es ein vertrautes Umfeld, in dem man über die Parameter bescheid wusste, und in dem die anderen Kinder deren Freund schützen, und dessen Verhalten stumm akzeptieren — bis eben einer nicht mehr konnte. Nun war es am Spielplatz so, dass da ein Kind Kirby ziemlich unfreunldich in die Wange zwickte. Zwar entschuldigte sich die Mutter bei mir, und ich denke dem Kind ging es nicht darum Kirby zu verletzten, sondern darum, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es lächelte mich an als ich ihm mit erhobenem Zeigefinger die »Du Du« Geste zeigte. Hätte ich Kirby nicht anweißen sollen, sich zu wehren, zumindest ebenfalls ein Zwicken anzubringen? Die Frau sagt da immer, dass man die Kinder einfach machen lassen muss. Ja, man muss die Kinder machen lassen, aber am Ende der Rechnung sind es Kinder. Ähnlich trug es sich in meiner Kindheit zu, wenn ich von anderen geschlagen wurde, wurde mir verboten mich zu wehren, denn ich muss ja etwas gemacht haben, dass diese Handlung provozierte. Jetzt stehe ich da und raufe damit, mir für vieles die Schuld zu geben, auch wenn sie mir nicht zusteht, das möchte ich meinem Kind ersparen. Da werde ich wohl noch ein wenig mit der Frau darüber unterhalten müssen.

Der Spielplatz war auch ein Panoptikum der Existenzen: auf der einen Seite die Eltern die nur vom Job sprachen, morgen Projekt hier, dann ein paar Tage in der Flat in London, von dort nach Dubai wegen eines Projekts, und dann ist da ja noch das Haus in Spanien wo man zumindest einmal den Postkasten ausleeren könnte; und auf der anderen Seite ein Vater, der sein Kind mit „Gib mir 20 du Bitch.“ zu Liegestützen motiviert.

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Im professionellen Alltag trafen neue Kollegen ein. Einer davon hat das Handwerk bei uns ver … gelernt, und man merkt: seit er den schoß der beruflichen Eltern verließ, gewann er einiges an Erfahrung. Deswegen muss man ihm erst wieder vermitteln, dass bei uns der Rhytmus der Trommel ein anderer ist. Was mich überraschte ist, wie wenig neues fachliches Wissen er mitbrachte. Das soll nicht heißen, dass er unqualifiziert ist, sondern wieviele Arbeiten in der großen Welt von eigens qualifiziertem Personal verrichtet wird. Und er verlässt seine Arbeitsplätze chaotischer als bei seiner Ankunft. Ich rief ihm am Ende der ersten Arbeitswoche an, und sagte ihm, er solle sein Zimmer aufräumen.
Und dieser launisch formulierte Ordnungsruf drückt ein Problem aus, dass ich momentan am Arbeitsplatz habe: ich bin eine Art Abteilungspapa. Schauen wir einmal wo sich das hin entwickelt.
Beim neuen neuen Kollegen … schauen wir einmal. Ich denke, der muss sich einfach erst bei uns einfinden, und dann wird das schon laufen.

Ich bin im Moment … es fühlt sich an, als würde mich etwas festhalten. Sowohl meinen Körper als auch meine Gedanken. Vielleicht bin ich einfach nur erschöpft. Erschöpfter.

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